Tasmanien - Welcome to the jungle!

Tasmanien
In Tasmanien erleben Mountainbiker inmitten von wilden Farnlandschaften und mystischen Regenwäldern ihr grünes Wunder in Sachen Trails. Satte 150 Kilometer feinste Bikepfade machen die Region rund um Derby zu Australiens Hotspot unter Bikern. Dabei wäre die Kleinstadt vor ein paar Jahren fast von der Bildfläche verschwunden.
Ist das hier „Die unendliche Geschichte“? Ich fühle mich wie mitten im Fantasy-Roman von Michael Ende. Nicht wegen den märchenhaften Landschaften und obskuren Felsformationen, durch die wir unsere Bikes jagen. Sondern weil dieser unfassbare Trail einfach kein Ende findet! Seit einer Dreiviertelstunde schaukeln wir unsere vollgefederten Spaßbringer zwischen alten Baumriesen, quietschbunten Flechten und vollgesogenen Moospolstern über den Blue Tier Trail. Über 20 Kilometer schlängelt sich dieser scheinbar endlose Trail der Superlative vom gleichnamigen Blue Tier Plateau hinunter Richtung Weldborough. „Das ist wie ein Jurassic Park für Mountainbiker“, entfährt es meiner Freundin Lisa, als wir auf einer kleinen Anhöhe Pause machen und den Blick über die wilde und für uns fremd wirkende Landschaft schweifen lassen. Recht hat sie. Mit den vertrauten Mischwäldern in den heimischen Alpen hat das hier so viel zu tun wie norddeutsche Biermixgetränke mit dem Bayerischen Reinheitsgebot.
Lisa und ich fahren seit zwei Jahrzehnten Mountainbike und haben bereits so einige Trails unter die Räder genommen. In den über zehn Jahren, die wir uns kennen, haben wir es immer geschafft, einmal im Jahr einen gemeinsamen Biketrip zu unternehmen. Zu Studienzeiten ging das easy-peasy in den Semesterferien, seit drei Jahren in den spärlichen, aber darum umso mehr gefeierten Auszeiten, die das Familienleben so mit sich bringt. Von den sonnigen Trails im Südtiroler Vinschgau, über die gebauten Murmelbahnen in Livigno bis hin zu hochalpinen Pfadbefahrungen im Schweizer Laax. Vor ein paar Monaten schickte mir Lisa dann einen Youtube-Link zu einem Video über die Trails rund um den tasmanischen Ort Derby und wir hatten sofort Feuer gefangen. Zugegeben, die Anreise auf die Insel „under down under“, wie die Australier ihren südlichsten Bundesstaat nennen, ist alles andere als kurz. Doch die außergewöhnliche Landschaft und die freundschaftlich-lässige „Let’s do this, mate“-Stimmung, die hier auf Outdoorenthusiasten wie uns warten, machen den langen Flug schnell vergessen.
Während wir die gebauten Anliegerkurven beackern und kleine Felsen als spaßige Kicker benutzen, tauchen wir immer tiefer in einen Zauberwald aus altehrwürdigen Eukalypten, meterhohem Heidekraut und wuchernden Farnen ein, die uns wie grüne Riesenkraken mit ihren Tentakeln zuwinken. Hier und da machen uns Überreste des einst blühenden Zinnbergbaus auf die einzigartige Geschichte der Region aufmerksam. „Als wir vor knapp zehn Jahren hierhergekommen sind, konntest du froh sein, wenn du überhaupt andere Menschen getroffen hast“, sagt Steve, unser Guide. Zusammen mit seiner Frau Tara betreibt er seit 2017 die Blue Derby Pods, in denen auch wir nächtigen. Ein exklusives, architektonisch gestaltetes Quartier im Herzen des Blue Derby Mountain Bike Trails Netzwerks, das am Ende einer drei Kilometer langen Rumpelstraße ins Nirgendwo trailhungrigen Mountainbikern eine einzigartige Unterkunft bietet. Vier kleine Hüttchen und ein zentraler Gemeinschaftsbereich mit Küche, Diningtable und solarbetriebenen Duschen versprechen Bike- Glamping mitten im Urwald.Bevor Mountainbiker aus aller Welt neues Leben nach Derby gebracht haben, stand der winzige tasmanische Weiler kurz vor dem Ruin. Mit we-niger als 200 Einwohnern machte sich Jahrzehnt für Jahrzehnt ein langsamer Niedergang breit, der zur Schließung der Schule und zum Verschwinden lebenswichtiger Geschäfte geführt hatte: Immer mehr junge Leute zogen weg. Die örtliche Zinnmine hatte schon lange dicht gemacht. Die Lebensmittelfabrik schloss, ebenso der Gemischtwarenladen, der Bäcker, der Metzger, das Elektrogeschäft und zwei Kurzwarenläden. Zeit-weise waren nur noch das Postamt, die Autowerkstatt und die beiden Kneipen geöffnet. Sonst gab es nichts. Derby lag am Boden. „Eine Geisterstadt“, sagen die Einwohner.
Wer heute durch Derby rollt, muss unweigerlich an die verschlafenen Surfer-Kommunen an der amerikanischen oder kanadischen Westküste denken. Ein halbes Dutzend Radfahrer rollt entspannt die Hauptstraße entlang. Ein paar Autos. Einige offene Cafés bieten Erfrischungen und kleine Snacks an. Ein Shuttle, das mit Fahrrädern beladen wird. Ein junger Fahrer, der auf dem Asphalt einen Wheelie hinlegt. Noch vor ein paar Jahren wäre um diese Tageszeit auf einem Friedhof mehr losgewesen. Über 3,1 Millionen Aussie-Dollar steckte die australische Regierung in den Bau des Blue-Derby-Mountainbike-Netzwerks. Als die Forstbehörde grünes Licht gab, holte sich eine Handvoll Bike-Enthusiasten, zu denen auch Steve gehörte, mit Glen Jacobs einen der weltbesten Trail-Bauer nach Derby. In kurzer Zeit stampften er und sein Team Dutzende Kilometer feinste Trails aus dem Boden, die auf so illustre Namen wie „Return To Sender“, „Berms’n’Ferns“ oder „Black Dragon“ getauft wurden. „Wenn man die Leute auf ein Fahrrad setzt, verschwinden all ihre Probleme. Immer mehr Menschen wollen diesem schmalen Band folgen und sehen, wohin es führt“, philosophierte World Trail-Gründer Jacobs damals. Und er sollte Recht behalten.
Mit den Trails und der Einweihung 2014 kamen auch die Mountainbiker. Und mit ihnen neue Unterkünfte, Campingplätze, Cafés, Bars und Restaurants. Auch Steve und Tara wagten damals den Sprung ins kalte Wasser, verabschiedeten sich von ihren sicheren Jobs am Festland, suchten sich Investoren und realisierten nach drei arbeitsintensiven Jahren ihren Traum vom Bike-Utopia im Urwald. Am Beispiel von Derby zeigt sich, welches Potenzial und welche Macht der Mountainbikesport hat. Dass der Radsport einem größeren Zweck als Spaß und Erholung dienen kann: der Umgestaltung einer ganzen Gemeinde. Und da heißt es immer, der Fußball vereint die Menschen…Mit der Enduro World Series holten sich die Tasmanier dann 2017 eine der weltweit wichtigsten Mountainbike-Veranstaltungen in ihre Gegend, die sonst nur in legendären Bike-Destinationen wie Whistler, La Thuile oder Finale Ligure stattfinden. Spätestens seit diesem Zeitpunkt war Blue Derby dick und fett auf der Landkarte der Bike-Community eingetragen. Mittlerweile hat auch das rund 60 Kilometer entfernte St. Helens an der Küste sein eigenes Wegenetz, das mit dem Blue Tier sogar verbunden ist. Das macht den Nordosten Tasmaniens zweifellos zu Australiens führender Mountainbike-Destination. Am nächsten Tag wollen wir einen dieser Verbindungstrails unter die Räder nehmen. Der „Bay of Fires-Trail“ führt vom höchsten Punkt des Blue Tier über 42 Kilometer durch Regenwald und subalpines Gelände, klettert durch riesige Granitfelsen und spuckt die Trail-Marathonisti an der Ostküste in der Bay of Fires Conservation Area nahe St. Helens wieder aus. Dort wartet als Belohnung dann der weiße Sandstrand von Swimcart Beach. Klingt verlockend. Laut Steve ein „epic ride“, den wir auf keinen Fall auslassen dürfen. Es gibt einige Orte auf der Welt, an denen man von den Bergen bis ans Meer biken kann. Doch 42 Kilometer Trailvergnügen am Stück sucht man dort vergeblich. Dementsprechend groß ist unsere Vorfreude, als wir uns zum Startpunkt hoch oben auf dem Blue Tier's Trailhead shutteln lassen. Steve hat uns empfohlen, für unseren Marathon-Trail auf E-Bikes umzusteigen, um sich von den vielen kurzen Gegenanstiegen nicht aus dem Flow bringen zu lassen. In unseren Rucksäcken haben wir reichlich zu trinken und etwas zu essen dabei, denn auf dem langen Weg gibt es nichts außer Wildnis.
„Have fun!“, ruft uns Steve zu und tritt in die Pedale. Wir folgen ihm durch den riesigen hölzernen Torbogen des Trailheads. Auf an den Strand! Der Trail führt erst mal recht planiert über den offenen Blue Tier, bevor er kurz darauf in dichten Wald eintaucht. Los geht die wilde Fahrt durch ein Dickicht aus majestätischen Myrtenbäumen, riesigen Baumfarnen und gewaltigen Eschen. Der an sich flowige und recht einfache Trail ist immer wieder gespickt von kleinen Felsenbrocken, die sich wunderbar zum Abziehen und Spielen eignen. Hier und da müssen wir unsere Bikes kurze Anstiege und felsige Stufen hinaufwuchten. Wir bahnen uns den Weg zwischen rundgeschliffenen Granitfelsen hindurch und halten immer wieder mal an, um den Blick über die umliegenden Bergketten und die noch weit entfernte Küstenlinie schweifen zu lassen. Jetzt legt der Trail an Tiefenmetern zu. Handtuchbreit jagt er uns durch alle Grüntöne einer schier endlosen Farnlandschaft. Wir nehmen Fahrt auf und lassen unsere Bikes wie auf Schienen durch die vielen Kurven flitzen und freuen uns über den erstaunlich guten Grip. Das liegt aber nicht an der weichen Gummimischung unserer Pneus oder an den stabilisierenden Extrakilos unserer motorisierten E-Boliden. Der Grund sind die besonderen Eigenschaften der Erde, die hier als "hero dirt" bekannt ist. Sie speichert die Feuchtigkeit extrem gut und klebt wie Klebstoff an den Fahrradreifen. Wir kleben wie Achterbahnwagen auf dem Trail und pushen unsere Bikes über das launige Auf und Ab durch den dichten Urwald.Nach einer gefühlten Ewigkeit entlässt uns der Trail für kurze Zeit auf eine Forststraße, die uns Zeit gibt, den Trail-Wahnsinn der vergangenen eineinhalb Stunden zu verarbeiten. Während ich mich gedanklich noch in Farnhausen befinde, steigt Lisa in die Eisen und lässt mich beinahe in ihr Hinterrad krachen. Bevor ich fragen kann, was los ist, deutet sie mit großen Augen auf ein mit Moos bewachsenes Wiesenstück nahe der Straße. Ein graues Fellknäuel tapst in aller Seelenruhe über die Wiese und sucht nach etwas Fressbarem. Was wie eine Mischung aus Ewok und übergewichtigem Murmeltier aussieht, ist in Wirklichkeit ein Wombat, erklärt uns Steve. Die „Stealer of Hearts“, wie die kleinen Flauschkugeln hier manchmal genannt werden, sind ausgewiesene Chiller und essen bis zu acht Stunden am Tag. Und das Beste: Sie kacken Würfel! Kein Witz. So richtig ungemütlich wird ein Wombat nur, wenn ein Artgenosse sein Revier angreift. Dann kann es ganz schnell mal zum – Achtung, festhalten! – „Mortal Wombat“ kommen. Wer beim Biken aufmerksam seine Umgebung beobachtet, kann mit etwas Glück weitere exotische Tiere wie Wallabys, das sind etwa 80 Zentimeter große Mini-Kängurus, Kakadus oder natürlich die berühmten Tasmanischen Teufel entdecken.
Auf den letzten Trail-Kilometern wird es noch mal richtig spaßig. Schnelle Anliegerkurven wechseln sich mit kleinen Jumplines ab. Hier und da rollt man über einen Granitfelsen oder quert ein kleines Bachbett. Manchmal erleichtern Metallstege die Überfahrt über allzu raues Gelände. Als hätte man Sölden aus dem Ötztal mitten in den Dschungel verfrachtet. Immer schneller rauschen wir durch den grünen Trail-Himmel. Der Spaßlevel steht am Anschlag. Und dann kommt plötzlich etwas, das wir in unserem Endorphinrausch komplett ausgeblendet haben: Das Ende unseres Trail-Marathons. Nach ein paar Minuten auf einer Forststraße stehen wir am weißen Sandstrand des Swimcart Beach, klatschen uns dauergrinsend ab und nehmen einen tiefen Zug von der – wissenschaftlich erwiesen – saubersten Luft des Planeten. Epic! Auf dem Rückweg im Shuttle beißen wir in unsere Sandwiches, schlürfen ein Bier aus der Local Brewery und philosophieren über die vergangenen Tage. Über diese fantastische Insel, die früher als Strafkolonie Australiens galt und heute mit ihren vielen Nationalparks ein Naturparadies erster Güte ist. Und über die heilende Kraft des von uns so geliebten Mountainbike-Sports, der ein ganzes Dorf vor dem Ruin bewahrt und vielen Menschen wieder Hoffnung, einen Job und eine Perspektive gegeben hat. Cheers!