SARIRI
Auf der Suche jenseits der Gipfel.
Text: Andri Bieger // Foto: Mountain Tribe
Die Anden – ein majestätisches Gebirge, das nicht nur durch seine schiere Höhe, sondern auch durch seine kulturelle Vielfalt beeindruckt. In Bolivien und Peru gelten die Berge als heilig, und wer sie besteigen möchte, muss ihnen mit größtem Respekt begegnen. Für uns, Mascht und Vali aus Österreich, Paul aus Deutschland und ich aus der Schweiz, war es nicht nur das Ziel, unser Können an steilen und ästhetischen Abfahrten über 6.000 Metern zu testen, sondern auch von den Einheimischen und ihrer Beziehung zu den Bergen zu lernen. Durch ihre Geschichten und ihre Unterstützung öffneten sie uns die Tore zu diesen magischen Orten. Unsere Reise führte uns zu den höchsten Gipfeln der Region, wo wir an unsere physischen und mentalen Grenzen stießen. Trotz Herausforderungen wie dünne Luft, gesundheitliche Beschwerden und unberechenbare Schnee- und Wetterbedingungen erlebten wir unvergessliche Momente. Doch nicht nur die Abfahrten prägten uns tief, sondern vor allem die Verbindung zu den lokalen Menschen – insbesondere unseren Guides, die uns mit ihrem Wissen und ihrer Gastfreundschaft begleiteten.
Der Reiz der Gegensätze: Natur und Kultur
Mein Herz pocht, als meine Steigeisen durch die dünne Schneeschicht brechen und auf blankes Eis treffen. Mit aller Kraft zwinge ich mich, drei weitere Schritte zu gehen, bevor ich erschöpft an der Wand innehalte und nach Luft schnappe. Der Schwindel lässt nach, ebenso die pochenden Kopfschmerzen. Mein Blick wandert die scheinbar endlose Wand hinauf zum Gipfel. Seit der letzten Pause habe ich kaum 15 Meter zurückgelegt. Wenigstens sind die Magenkrämpfe verschwunden – das Antibiotikum scheint zu wirken. Was mache ich hier bloß?
Vor zehn Tagen kamen wir in La Paz an. Einer pulsierenden Großstadt auf über 3.600 Metern Höhe. Es roch nach Gewürzen und gebratenem Fleisch, Cholitas boten am Straßenrand ihre Waren an, Minibusse rasten durch die engen Gassen, und Straßenhunde dösten träge im Schatten. Die erste Woche verbrachten wir damit, uns mit Wanderungen auf die umliegenden Berge an die Höhe zu gewöhnen und unsere Mägen auf die lokale Küche zu gewöhnen. Durch einsame Täler, vorbei an verlassenen Mienen, verfolgt vom kritischen Blick der Lamas stiegen wir zur Akklimatisation auf mehrere Berge über 5.000 Meter. Nach zehn Tagen fühlten wir uns bereit für die richtig hohen Berge und peilten den Huayna Potosi mit seinen 6.088 Meter an. Unser lokaler Skiguide Sergio führte uns zunächst durch goldene Grassteppen, in denen Lamaherden weideten. Schließlich schleppten wir die Ski über Felsen und Geröll auf 5.200 Meter zur Gletscherkante, wo endlich ein wenig Schnee lag.
Jetzt stehen wir, auf den Frontzacken unserer Steigeisen balancierend, in der Südwand. Trotz meiner Beschwerden zwinge ich mich, in Zeitlupe weiterzugehen. Endlich erreiche ich den schmalen Gipfel. Keuchend setzen wir uns hin, bis ein Wolkenfenster die Abfahrt erlaubt. Zunächst zögerlich und unsicher auf den Kanten im harten Schnee und Eis beginne ich die Abfahrt. Anfangs in kantigen Schwüngen, doch dann wächst das Vertrauen und bald gleite ich in fließenden, harmonischen Kurven ins Tal. Die Freude über die erste gelungene Abfahrt steht uns allen ins Gesicht geschrieben.
Doch schon beim nächsten Vorhaben vergeht uns das Lachen. Die furchteinflößende Steilwand des Condoriri-Massivs steht auf dem Plan. Wir werden in strömendem Regen am Ende der Straße abgesetzt und wandern kalt und durchnässt, schwer beladen mit Ski- und Filmausrüstung, zum Basecamp – einer baufälligen Hütte mit schäbigen Matratzen auf dem Boden. Wir sind einfach nur froh, dem Unwetter entkommen zu sein, und bereiten unsere Trekkingmahlzeiten zu. Leider haben nun Vali und Paul starke Magenprobleme und müssen die ganze Nacht über nach draußen rennen. Die Lage wird kritisch, als unser letztes Toilettenpapier aufgebraucht ist. Mascht und ich brechen deshalb allein zum Gipfel auf. Über endlose Geröllhänge, die unsere leichten Trailrunningschuhe richtig malträtieren, steigen wir zum Gletscher hoch, wo wir endlich die Ski anlegen. Als wir in die Wand einsteigen, merken wir, dass der gestrige Regen den Schnee in eine harte Eisschicht verwandelt hat. Unmöglich zu fahren – wir müssen enttäuscht wieder absteigen.
Unser letztes Ziel in Bolivien ist auch das ambitionierteste: der 6.074 Meter hohe Chachacomani, welcher nur mit einem dreitägigen Fußmarsch zu erreichen ist. Informationen über die auf Karten vielversprechend aussehende Südwand sind rar. Als wir nach einer holprigen Autofahrt am Fuss der Berge unsere Träger und Maultiertreiber treffen, wird uns die Schattenseite unserer Expedition bewusst:
Seit der Zerschlagung des Inkareichs durch Francisco Pizarro im 16. Jahrhundert kamen die Europäer hauptsächlich als Eroberer nach Südamerika. Gipfelnamen wie „Pico Austria“ zeugen von den jüngsten alpinistischen Eroberungszügen. Es ist daher verständlich, dass manche Einheimische eine gewisse Abneigung gegenüber Touristen hegen, die ihre heiligen Berge entweihen. Noch vor wenigen Jahren war deshalb die Region um den Chachacomani eine für Ausländer unbetretbare „rote Zone“. Heute jedoch profitieren die Einheimischen vom Tourismus und helfen uns, unser Gepäck durch ein atemberaubend schönes Hochtal bis zum Highcamp auf 5.200 Meter zu bringen – in zerschlissenen Sandalen und mit 30 Kilogramm Gepäck auf dem Rücken. Während eines heftigen Gewitters suchen sie Schutz in windigen Strohhütten, während wir in unseren Daunenschlafsäcken im Zelt liegen. Sie sind die wahren Helden dieser Expedition, und wir sind voller Dankbarkeit und Respekt.
In der Nacht brechen wir zum Gipfel des Chachacomani auf, durchqueren ein riesiges Labyrinth aus Gletscherspalten, und mehrmals suchen wir im Schein unserer Stirnlampen nach sicheren Schneebrücken. Beim ersten Tageslicht sind wir ernüchtert: Die Südwand, die wir befahren wollten, ist viel eisiger und steiler als gedacht. Dennoch klettern wir weiter hinauf, in der Hoffnung, eine fahrbare Linie zu finden. Oben raubt uns der Anblick die Sprache: In der Ferne breitet sich der nebelverhangene Amazonas aus, das endlose goldene Altiplano liegt vor uns, und am Horizont leuchtet der Titicacasee in tiefem Blau. Unter uns gähnt die Leere der Südwand. Mascht wagt als Erster die Abfahrt, steuert direkt durch die etwa 55 Grad steile Wand, vorbei an bedrohlichen Gletscherabbrüchen. Während ich mit angehaltenem Atem seine Schwünge im harten Schnee beobachte, denke ich unweigerlich an unser Rettungskonzept, sollte etwas schiefgehen – Helikopter gibt es keine, nur uns, die Träger und ihre Maultiere. Vali wählt eine furchteinflößende Route, die erst 2018 von Kletterern erstbestiegen wurde. Geschickt schlängelt er sich durch die Felsen, stets am Limit des Kantengriffs seiner Ski. Ich entscheide mich für eine Abfahrt entlang des imposanten Grats. Die Freude, als wir unten auf dem Gletscher wieder vereint sind, ist unbeschreiblich. Leider ist die Tour noch lange nicht vorbei. Durch sumpfigen Schnee kämpfen wir uns mit letzter Kraft zurück zum Pass, wo Paul und Sergio uns freudig erwarten. Sergio erklärt, dass alle drei Lines höchstwahrscheinlich Erstbefahrungen seien. Dass wir mit unseren Erstbefahrungen einen seiner Berge „entzaubert“ haben, nimmt Sergio uns aber nicht übel, sondern freut sich mit uns.
Erfüllt von diesem Erfolg reisen wir nach Peru. Von Lima aus geht es mit dem Nachtbus nach Huaraz, wo wir Christian, unseren lokalen Führer, treffen. Mascht`s Großvater hatte bereits Expeditionen in diese Region unternommen und dabei den damaligen Hochträger Christian kennengelernt, dem er darauf eine Skiführerausbildung in Österreich ermöglicht hatte. Unsere erste Herausforderung ist der 5.752 Meter hohe Nevado Pisco. Die Landschaft erinnert uns an Jurassic Park: Fremdartige Pflanzen mit würzigem Duft säumen den Pfad neben einem türkisblauen Bach, während sich auf beiden Seiten wolkenverhangene Granitwände erstrecken. Unser Basecamp ist eine Hütte im europäischen Stil. Leider zwingt mich eine Erkältung zu pausieren und so ziehen die Jungs alleine dem Gipfel entgegen. Über Funk verfolge ich gespannt ihren Aufstieg durch endlose, brüchige Gletschermoränen und schließlich über einen langen Grat mit feuchtem Schnee zum wolkenverhangenen Gipfel. Bei null Sicht kämpfen sie sich hinauf und fahren vorsichtig wieder ab. Erschöpft und erleichtert kehren sie nach über zwölf Stunden am Berg zur Hütte zurück. Der anschliessende Abstieg zur Straße ist für uns alle eine mentale Herausforderung, vor allem weil unser Taxi bis zum letzten Tageslicht nicht erscheint. Schon bereiten wir uns auf ein kaltes Biwak vor und ziehen all unsere Kleider an, als der Fahrer endlich doch noch auftaucht und uns in die Zivilisation zurückbringt.
Unser letztes Ziel ist der 6.034 Meter hohe Tocllaraju, dessen beeindruckende Steilwand uns magisch anzieht. Nach einem zweitägigen Fußmarsch schlagen wir unser Camp auf einem spektakulären Felsvorsprung oberhalb des Gletschers auf. Die ganze Nacht hindurch lassen uns laute Gletscherabbrüche keinen Schlaf finden. Noch vor Tagesanbruch machen wir uns durch ein Labyrinth aus Gletscherspalten auf den Weg zum Gipfel. Immer wieder müssen wir über Eisbrücken balancieren oder um massive Eisblöcke herumklettern. Am Grat unterhalb des Gipfels brechen Mascht und ich schließlich alleine auf. Ein riesiger Eisblock über dem Aufstieg droht abzubrechen. Wir versuchen, diese Gefahrenzone schnell zu passieren, doch schneller als in Zeitlupe schaffen wir es nicht auf dieser Höhe. Als wir probieren, eine Abkürzung über eine Gletscherspalte zu nehmen, bricht plötzlich der Schnee unter Mascht weg und er stürzt in die Tiefe. Zum Glück hält das Seil und er kann geschickt selbst wieder aus der Spalte klettern. Die letzten Meter zum Gipfel verlangen nochmals volle Konzentration. Mascht übernimmt die Führung in der steilen Eiswand und setzt Eisschrauben zur Sicherung. Nur noch ein schmaler Grat trennt uns vom Gipfel, und die atemberaubende Aussicht belohnt uns für alle Strapazen.
Aufgrund der prekären Schneeverhältnisse verzichten wir darauf, die Steilwand zu befahren, und wählen stattdessen unsere Aufstiegsroute für die Abfahrt. Es geht zurück durch das Eislabyrinth und wir müssen zweimal abseilen. Trotz dieser Schwierigkeiten ist der Tocllaraju ein würdiger und krönender Abschluss unserer Reise. Als wir erschöpft und glücklich bei einem kühlen Bier in Huaraz sitzen, lassen wir die Reise Revue passieren.
Die fünf Wochen, die wir in Südamerika verbringen durften, waren alles andere als einfach oder erholsam. Fernab vom gewohnten Komfort und der Sicherheit unseres Zuhauses fanden wir uns in einem fremden Land wieder – verletzlich, den Elementen ausgesetzt und auf uns selbst gestellt. Doch gerade diese Entbehrungen, Herausforderungen und Unsicherheiten machten unsere Erlebnisse so einzigartig. Wir werden ein Leben lang mit Freude und Stolz auf dieses Abenteuer zurückblicken und sind den Locals, welche uns dabei unterstützt haben, zutiefst dankbar.