Norwegen

Jiehkkevárri, der mit Schnee bedeckte Berg

Jiehkkevárri, der mit Schnee bedeckte Berg
Der Jiehkkevárri ist der höchste Berg in meiner Region, der höchste Berg Nord-Norwegens und der Provinz Troms og Finnmark. Man kann ihn fast immer in der Ferne sehen, wenn man auf einem der Gipfel rund um Tromsø steht. Der Name des Berges stammt von den norwegischen Urein-wohnern, den Nordsamen, und bedeutet "der mit Schnee bedeckte Berg".
An allen Seiten des Jiehkkevárri fallen die Faces unfassbar steil ab, aber die eine Line, die wirklich ins Auge sticht, ist die Südwand, auch „Arctic Brenva“-Wand genannt. Dieses Face wurde 1979 von David Nicholls zum ersten Mal geklettert. Mein Rab-Botschafterkollege Eivind Jacobsen und ein guter Freund von mir, Finn Hovem, haben sie 2020 mit Skiern befahren. Als ich meine Freunde von ihrem Abenteuer erzählen hörte und all das Filmmaterial sah, wusste ich sofort, dass ich so etwas unbedingt selbst erleben wollte.
Mein Ziel für diese Saison war es daher, drei verschiedene Lines auf dem Jiehkkevárri zu fahren, mit dem Artic Brenva Face als Hauptziel. Alle drei Lines sollten Erstbefahrungen mit dem Snowboard sein.
Erreichen der Artic Brenva-Wand
Nachdem ich das Wetter und die Schneeverhältnisse über Monate genau beobachtet hatte, tauchte ein Wetterfenster in der Vorhersage auf. Ich beschloss, es mit ein paar Freunden zu versuchen. Es würde ein Abenteuer sein, auf dem Gletscher direkt unter der Wand zu zelten.
Nachdem wir unsere Schlitten sieben Stunden lang gezogen hatten, tauchte der Jiehkkevárri plötzlich auf. Da war sie, die Brenva-Gletscherwand, die 1.000 Meter senkrecht in die Luft ragte, mit verrückten Spines, No Fall Zones, Fels und Eis.
Mein Herz blieb für einen Moment oder so stehen, als mir bewusst wurde, was ich mir für eine Line ausgesucht hatte. Ich dachte darüber nach, was alles schief gehen könnte. Das Errichten unseres Nachtlagers lenkte mich gerade so weit ab, dass ich meine Bedenken wegschieben konnte, aber als die Dunkelheit hereinbrach und ich mich in meinen flauschigen Schlafsack kuschelte, kehrten die Zweifel zurück. Das andauernde tiefe Grollen und Rumpeln der massiven Seracs, die abbrachen, half auch nicht direkt beim Einschlafen…
4 Tage, 0 erfolgreiche Besteigungen
Am nächsten Morgen wachte ich auf, als die ersten Sonnenstrahlen auf mein Zelt fielen. In dieser Sekunde wurde mir klar, dass ich die Chance verpasst hatte, mein Hauptziel für diese Saison zu befahren. Als ich die warme Sonne auf meiner Haut spürte, die die Südwand bereits bearbeitete,war klar, dass ich den Einstieg nicht mehr erreichen konnte.
Schnell reorganisierte ich meinen Kopf und meine Ausrüstung und überlegte mir, wie ich von unserem Lager aus eine der anderen Lines erreichen konnte. Dazu müssten wir über den Südgrat zum Gipfel aufsteigen, diesen überschreiten und von der Nordostwand aus in das Face einsteigen. Am nächsten Morgen klingelte der Wecker um drei Uhr früh. Um vier waren wir auf dem Weg. Zwei Stunden später setzte eine dichte Nebeldecke unserem Vorhaben ein Ende. Frustriert und enttäuscht kehrten wir zum Lager zurück. Was, wenn unser Vorhaben überhaupt nicht machbar wäre? Auch der vierte Tag brachte keine Verbesserung: Schlechtes Wetter suchte uns heim und wir mussten uns wohl oder übel vom Jiehkkevárri verabschieden und zurück ins Tal.
Glück auf den 5. Versuch
Ein Monat verging, und der April war vorbei. Als es langsam Mai wurde, wusste ich, dass ich auf einen richtig großen Dump angewiesen war, um mein Ziel noch in diesem Winter zu erreichen. Und als ob der Himmel mich gehört hätte, begann es plötzlich eine Woche lang wie verrückt zu schneien. Das wäre meine letzte Chance, also rief ich Finn Hovem und Jacob Wester an, ob sie im nächsten Wetterfenster zusammen mit mir zum Jiehkkevárri kommen wollten, um das Südface zu befahren. Beide sagten zu.
Die Leere füllen
Um 22 Uhr brechen wir auf. Wir nähern uns dem Gipfel von der Westseite, um von oben in die Line einzufahren. Um drei Uhr morgens erreichen wir unseren Einstieg, während wir den schönsten Sonnenaufgang erleben, den ich jemals in meinem Leben gesehen habe.
Von oben sieht alles gut aus, und wir starten mit den Vorbereitungen, während wir auf Tageslicht warten. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, ob es das jetzt ist, was mir fehlt. Hier oben am Jiehkkevárri zu stehen und darauf zu warten, in die Line zu droppen. Würde dieses Abenteuer die Leere füllen, die ich in mir verspürte? Ich packe meine Siebensachen zusammen, während sich Angst und Nervosität in meinem Magen breit machen. Mir ist sehr bewusst, dass das die exponierteste Line ist, die ich in meinem gesamten Leben bisher gefahren bin…
Das Licht ist gut und Finn droppt rein. Er fährt die stark ausgesetzte Traverse hinunter, als sich plötzlich ein Schneebrett direkt unter seinen Skiern löst. Ich schnappe nach Luft und halte den Atem an, aber er fährt weiter über eine Spine, bis er außer Sichtweite ist. Kurze Zeit später meldet sich seine Stimme in meinem Funkgerät, er habe einen Safe Spot gefunden, wir könnten weiterfahren. Ich bin der Nächste. Ich nähere mich dem Drop-In. In jeder Hand halte ich einen Eispickel, meine Boots sind fester geschnürt denn je, und die Kanten meines Boards sind scharf wie Messer.


Ready – steady – drop in!
Auf halbem Weg nach unten finde ich mich in einer 55 Grad steilen Flanke wieder, hacke beide Eispickel in den Schnee und navigiere durch Fels- und Eisschollen. Ich war noch nie so präsent in der Gegenwart und fokussiert. Ich habe das Gefühl, dass all die Jahre, die ich auf meinem Board verbracht habe, genau auf diesen Moment hinauslaufen. Ist das das Gefühl, das ich vermisst habe? Ich nähere mich Finn an und wir diskutieren die Lawinensituation. Er meint, dass sich der Schnee aufgrund der fehlenden Spannung wahrscheinlich nur unter unseren Füßen lösen wird. Etwas beruhigt und sicherer fahren wir in den Haupt-Gully ein – das Schlimmste ist überstanden. Immer noch sind die Verhältnisse sehr sketchy, Finn löst auf sämtlichen Spines Lawinen aus. Glücklicherweise sollte er recht behalten, und der Schnee löst sich aufgrund der fehlenden Spannung nur unter seinen Füßen. It’s my turn again. Ich springe in kurzen Schwüngen über den harten Schnee über dem großen Cliff in der Mitte des Couloirs. Wenn man hier das Gleichgewicht verliert, ist es höchstwahrscheinlich vorbei.
Ich fahre über die Spine, um in einen engen Gully einzufahren, als plötzlich meine Kanten zu springen beginnen. Der Boden beginnt sich zu bewegen und ich rutsche etliche Meter einfach mit, bevor meine Kanten glücklicherweise wieder Grip bekommen. Ich bleibe stehen, checke meine Umgebung auf mehr Schnee, der sich bewegt, ich atme schwer. Alles sieht okay aus.
Der nächste Abschnitt: Eine entscheidende Traverse, die man hinbekommen sollte. Am Ende des engen Gullys gibt es einen kleinen Drop. Die Schneelage ist dünn. Ich habe keine andere Wahl, als mich an meinen beiden Eisäxten festzuklammern und runterzurutschen.
Jetzt stehe ich am Rand, schaue auf den Rest der Rinne hinunter und erhasche einen Blick auf die letzte offene Flanke. Die Line ist eindeutig und gut einzusehen bis zum Ende hin. Ich drehe mein Board und springe. Ich brauche genug Geschwindigkeit für die Querung. In meiner eigenen Line aus Finns Spuren heraus bekomme ich den Schnee richtig zu spüren, und es ist richtig slabby. Ich löse mehrere Schneebretter auf den Spines aus, manche größer, andere kleiner. Schließlich nähere ich mich meinem Safe Spot und weiß, dass ich aus der Gefahrenzone bin. Es bleibt mir nur, auf meine Buddies zu warten.
Obwohl wir erst die Hälfte des Weges hinter uns haben, kommt es mir vor, als wären wir schon ewig in diesem Face. Der letzte Abschnitt ist eine große Rinne mit fluffigem Schnee, versteckten Sharks und einem riesigen Cliff zum Abschluss. Stürzen ist keine Option.
Wir genießen die herrlichen Schwünge in der Rinne, und die Crew macht einen wirklich guten Job, indem sie von einem sicheren Standplatz zum nächsten navigiert. Es ist jetzt sechs Uhr morgens und mein Körper fühlt sich erschöpft an, nachdem ich die ganze Nacht unterwegs war. Ich muss mich wirklich davon abhalten, mir vorzustellen, wie es sich anfühlen wird, wieder unten in Sicherheit zu sein. Als es an mir ist, die Führung im unteren Teil zu übernehmen, bin ich wieder voll fokussiert. Die Schneebretter im oberen Teil haben definitiv Eindruck hinterlassen, und so guide ich unsere Gruppe langsam und mit Bedacht.
Wir nähern uns dem letzten Teil der Wand. Über Funk sagt Finn, dass es gut aussieht und wir einfach den ganzen Weg bis zum Gletscher hinunterfahren sollten. Ich mache es ihm nach und fahre los, nehme Tempo auf und mache Big Turns. Am Gletscher komme ich mit Highspeed an, und als ich mich umdrehe, um unsere Spuren auszumachen, ist das nicht möglich – zu massiv ist dieses Face.
Als wir auf dem Gletscher wieder zusammenkommen, platzen wir alle vor Aufregung. Wir jubeln und umarmen uns und diskutieren über die verschiedenen Abschnitte unseres Abstiegs. In diesem Moment fühle ich mich vollkommen zufrieden, erfüllt und vor allem glücklich.
Ich erlaube mir, die erfolgreiche Befahrung der Südwand ein paar Tage lang zu genießen, bevor ich an meine zwei verbleibenden Lines erinnert werde. Erst ein Drittel des Projekts ist abgeschlossen! Also schaue ich nach dem Wetter, indem ich nach einem Fenster Ausschau halte, sehe eines und packe meine Tasche…