IM LAND DER MAPUCHE | CHILE

Text: Karen Eller | Fotos: Mia Knoll
In Chile hängt man gerne ein kleines Extra an – sprachlich wie emotional. Aus einem einfachen Tequila wird ein feuriger Tequilazo, aus einem guten Trail ein unvergessliches Abenteuer. So wurde aus einem Abstecher am Vulkan Batea Mahuida ein Bateazo Freeride – ein Ride mit Seele, Staub und Spiritualität.
Wir sind unterwegs in der Region Araucanía, im wilden Süden Chiles. Eine Gegend, in der Vulkane schlafen, Wälder uralt sind und Geschichten tief in der Erde wurzeln. Mit dabei: Leni, meine Reisegefährtin mit dem Herz am Lenker; Victor, unser warmherziger Pickup-Fahrer; Aldo, Mapuche und Guide mit Vision; Ernesto, sein wortkarger Freund mit sicherem Fahrstil; sowie Maria und Eli, zwei passionierte Fotografinnen auf der Suche nach Licht und Linien.
Startpunkt: Icalma. Ein Dorf, als hätte es die Hektik der Welt vergessen. Holzfassaden lehnen sich an grüne Hänge, Araukarien recken ihre urzeitlichen Kronen gegen den Himmel. Der gleichnamige See liegt still in der Morgensonne, als wolle er nicht stören. Victor erwartet uns bereits, die Bikes auf der Ladefläche verstaut. Die Straße hinauf zum Batea Mahuida ist rau, staubig, steil. Aldo steht aufrecht auf der offenen Ladefläche, hält sich am Dach fest, während der Pickup durch die Kurven holpert. Er kennt jeden Stein, jede Wolke am Himmel. Oben angekommen – eine andere Welt: Stille, Wind, Weite. Ein Holzpfosten markiert die Grenze zu Argentinien, unter uns schimmert ein Kratersee in einem unwirklichen Blaugrün.
Hier beginnt unser Freeride. Feinster Vulkansand staubt unter den Stollen, das Terrain ist roh und unverzeihlich. Kein durchdesignter Trail, sondern Natur pur. Ich ringe kurz mit der Balance, dann finde ich den Rhythmus. Die Bremsen lösen, den Körper in den Flow kippen – plötzlich ist alles leicht. Der Trail trägt mich. Ich surfe den Hang hinab, umspült vom Wind, mit dem Geschmack von Freiheit auf der Zunge. Ein Gefühl, das man nicht plant – es passiert. Der Untergrund verändert sich. Aus offenem, kargem Terrain wird dichter Wald. Der Trail verengt sich, der Boden wird griffiger. Erste Bäume, dann ein ganzes Meer aus Araukarien. Am Aussichtspunkt warten die anderen. Wir grinsen einander an – verdreckt, durchgeschüttelt, selig.
Weiter geht’s durch ein Naturdenkmal: ein Trail, eingefasst von Pehuén-Bäumen, den heiligen Araukarien der Mapuche. Einige von ihnen sind über 1000 Jahre alt. Ihre skurril verzweigten Äste wirken wie aus einem Fantasyfilm. Aldo erzählt leise, fast ehrfürchtig, von ihrer Bedeutung: Die Pehuén sind mehr als Bäume – sie sind Wächter, Ahnen, lebendiges Erbe. Ihre Früchte, die nahrhaften Piñones, sicherten früher das Überleben ganzer Dörfer.
Aldo öffnet ein Fenster in seine Welt. Er spricht von seiner Kindheit ohne Strom, mit kalten Flüssen und warmem Feuer. Von Trailbau nicht als Sport, sondern als Ausdruck kultureller Identität. Wenu Mapu, so nennt er dieses Gebiet – das „Land darüber“, ein Ort der Ahnen. Er studiert heute Jura in Temuco, sein Ziel: Umweltrecht. Nicht für Karriere oder Kapital, sondern für sein Volk, für den Wald, für die Stille. Es ist diese Philosophie, die hängen bleibt. Die Mapuche sehen Natur nicht als Ressource, sondern als Verwandte. Jeder Baum, jedes Tier, jeder Stein hat einen Platz, eine Würde. Kein Besitz, sondern Beziehung.
Am zweiten Tag stehen wir früh auf. Heute geht es auf Aldos Lieblingstrail, tief hinein ins Land seiner Familie. Das Shuttle bringt uns bis zur Baumgrenze, weiter geht es zu Fuß. Die Bikes geschultert, steigen wir auf. Es ist schweißtreibend, doch die Aussicht entschädigt: Unter uns ein Mosaik aus Seen, Wäldern, Bergen – wie gemalt, nur besser. Der Himmel hängt tief, das Licht ist weich, die Luft klar.
Der Trail führt durch dichten, alten Wald. Wurzeln winden sich wie Adern durchs Erdreich, moosige Steine, umgestürzte Stämme – alles wirkt, als wäre es genauso gewachsen, damit wir hier fahren. Es beginnt zu regnen. Zuerst nur tröpfelnd, dann beständig.Doch der Waldboden nimmt das Wasser auf wie ein Schwamm, gibt Halt, dämpft Geräusche. Alles wird leiser. Nur das Surren der Kette, das rhythmische Einfedern der Gabel. Der Wald lebt, atmet – und lässt uns gewähren. Nach einer Weile lichtet sich der Wald. Wir erreichen eine kleine Weide, Kuhglocken klingen durch den Nebel. Erste Häuser tauchen auf, Rauch steigt aus einem Kamin. Der Weg endet, die Zivilisation empfängt uns schweigend. Wir halten an. Niemand spricht. Es ist ein Moment, der nicht erklärt werden muss. Aldo durchbricht die Stille: „Wir sind hier nur Gäste. Die Natur gehört sich selbst.“ Ein Satz, der trifft. Vielleicht mehr als jeder Höhenmeter. Am Abend sitzen wir in einer kleinen Hütte am Kamin. Der Mate dampft, die Cazuela – ein traditioneller Eintopf mit Fleisch, Mais und Kürbis – duftet nach Geborgenheit. Draußen senkt sich die Nacht über Icalma, der See liegt schwarz und still. Nur das Holz knackt im Ofen, als wolle es uns Geschichten zuflüstern. Morgen fahren wir weiter. Neue Trails, neue Ausblicke. Aber ein Teil von uns bleibt hier: unter den Pehuén-Bäumen, im Staub des Vulkans, im leisen Nachklang von Aldos Worten. Der Bateazo, das mehr war als ein Ride. Es war eine Begegnung mit Chile.