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Seite 38 | BERGSTOLZ Ski Magazin Dezember 2011
ADAMELLO
In meiner Brust schlagen zwei Herzen. Zum einen das des hedonistisch veranlagten Freeriders, der es
liebt mit seinen Kollegen von November bis Mai nach den ergiebigsten Neuschneemengen zu suchen
und dabei nach dem Lustprinzip zu verfahren. Zum anderen das eines Huskys, der es genießt bis zur
totalen Erschöpfung lange und schnelle Skitouren zu gehen. Das am besten in einemWettbewerb, weil
es letztendlich eine sehr archaische Angelegenheit ist und einem hilft gewisse Dinge gelassener zu
sehen. Die Voraussetzungen für so eine Aktion sind einfach. Öfter mal ’ne lange Skitour gehen und die
hässlichsten Fratzen seines inneren Schweinehundes zu kennen, reichen zur Vorbereitung aus.
Die Adamellogruppe zählt für mich zu den besten Frühsaisongebieten, wenn die ersten Südstaulagen
für ordentlich Neuschnee am Tonalepass und am Presena Gletscher sorgen. Seit mehr als zehn Jahren
komme ich mehrmals im Jahr an den Tonale, um mit bis dato noch wenig Konkurrenz den frischen
Powder zu genießen. Wobei diverse „Spot Reports“ und andere moderne Buschtrommeln das perfek-
te Timing für immer mehr Gleichgesinnte möglich machen.
Jetzt ist der 3. April 2011, 5.30 Uhr am Morgen. Ich verlasse das Hotel in einem Skitourenrennanzug
und bin voll aufgerödelt mit Ski, Steigeisen, Seil, Gurt, Karabiner, und was sonst noch zur vorgeschrie-
benen Ausrüstung für ein hochalpines Skitourenrennen gehört. Ich erinnere mich an Nächte, in denen
ich um diese Uhrzeit die letzte Bar am Tonale verlassen habe. Mein Teampartner Simon folgt mir in
gesprächsfaulem Sicherheitsabstand.
Am Startplatz auf 1.800 Metern brodelt es. Man sieht nur völlig aufgedrehte Teilnehmer, die sich auf-
wärmen, sowie deren utensilienhaltende Groupies, die vor Stolz und Anteilnahme fast platzen. Die
Ausrüstung – Ski, Schuh und Stock – besteht meist nur aus Carbon, und das Gewicht liegt bei einem
Bruchteil von dem einer Freerideausrüstung. Ich werde mich an den Anblick meiner superschlanken
Renn-Tourenski nie richtig gewöhnen, aber um diese Distanz im sportlichen Stil überwinden zu kön-
nen, führt kein Weg daran vorbei. Im Startbereich riecht es nach sämtlichen Muskelfluids dieser Welt,
angeschwitzten Funktionsklamotten – und ja, man kann es nicht verleugnen – auch nach etwas Pipi,
das sich mit Angstschweiß mischt. Ich weiß nicht genau, ob mir die ein oder andere Bierfahne,
Knoblauch und ab und an etwas „Majoranrauch“ in der Nase bei der ersten Gondelfahrt an fetten
Powdertagen nicht lieber ist.
Die Streckenführung gleich nach dem Start im ersten Anstieg hat im Gegensatz zur traumhaften
Skiroute vom Passo Presena einen Haken: 680 Mann wollen nach circa 1,5 Kilometern durch den
berühmten Tunneleingang, der aber nur zwei auf zwei Meter misst. Ein unmögliches Unterfangen –
und somit das vorprogrammierte Chaos. Der Startschuss fällt, und es gibt dafür nur ein Wort:
Stampede. Wir haben uns in der zweiten Reihe nach der Elite eingereiht („A Bayer derf des!“), fahren
die Ellenbogen aus und versuchen schnell in den Flow zu kommen. Das Gelände ist blankes Eis und
leicht coupiert. So dauert es nicht lange, bis ein Läufer vor mir stürzt und eine Skistockspitze aus
Wolframstahl in Richtung meiner Kronjuwelen zeigt. Mit der Hand schlage ich diesen weg und kra-
che mit meinem rechten Knie im Morgengrauen voll in den schmächtigen Italiener hinein. Es macht
knack, und sein Carbonstock ist gebrochen. Für einen Haftpflichtversicherungsschaden ist keine Zeit.
Ich springe auf, orientiere mich an Simon, der mir von hinten Rückendeckung gibt, und weiter geht
die Hatz. Man ist so gepusht, dass man eine kleinere bis mittlere Verletzung auch gar nicht wahrneh-
men würde.
Für die ersten 1.200 Höhenmeter haben wir eine Stunde, 40 Minuten veranschlagt, um uns nicht
gleich sauer zu laufen und um hinten ’raus noch ein bisschen „randalieren“ zu können. Allmählich
kommt die Horde in einen Rhythmus, und jeder ist damit beschäftigt diesen zu halten. Die Sonne geht
langsam auf, und ich blicke wehmütig rechts entlang der stillgelegten Liftanlagen hinauf. Nach jedem
Schneefall hat man hier ein sehr variantenreiches Gelände mit kleinen Cliffs und Rinnen. Einfach der
perfekte Minigolfplatz.
Oben auf dem Passo Presena (3.069 Meter hoch) haben sich morgens um halb acht schon einige hun-
dert Zuschauer eingefunden und peitschen uns an. Felle runter, in den Rennanzug gestopft, Schuh auf
Abfahrt und Bindung verriegelt in circa 40 Sekunden. Nach zwei Stockschüben heißt es nun, die
Abfahrt im wahrsten Sinne des Wortes zu überstehen. Linienwahl gibt es nicht, man orientiert sich
an der Streckenmarkierung und versucht einfach nur schnell Höhe zu vernichten und sich nicht lang
zu machen. Der Boden ist pickelhart gefroren und mit gemeinen, überfrorenen und zerfahrenen
Bruchharschfeldern durchsetzt. Wir rattern die ersten 600 Höhenmeter mit einem Höllentempo hin-
unter. Kein Team schenkt dem andern etwas. Trotzdem kann ich es mir nicht verkneifen, mir bei eini-
gen kleinen Kuppen etwas Luft unter meine Ski zu verschaffen. Ein nervöser Italiener neben mir
mahnt mich gleich mit einem „piano, piano“ die Sache nicht zu übertreiben. Es sei aber gesagt, dass es
fast unglaublich ist, was eine moderne Leichtbautourenbindung wie die Dynafit Low Tech aushält.
Nach nunmehr 300.000 Aufstiegs- und Abfahrtshöhenmetern funktioniert sie trotz meiner 82
Kilogramm wie am ersten Tag und hat auch auf breiteren Freeridelatten mit knapp 190 wie dem K2
Coomba immer überzeugt. Auch bei den Schuhen hat sich enorm viel im Skitourenrennsport getan.
Während man vor wenigen Jahren noch ein Abfahrtsgefühl wie in einem Moonboot hatte, ist man
heute fast so einbetoniert wie in einen Freeridestiefel. Dank supersteifem Carbonschaft, Innenschuhen,
die den Namen nicht verdienen, und super engen Leisten, die man meist weiten muss, um die
Schmerztoleranz der Füße nicht zu überstrapazieren.
Jetzt geht es in den zweiten Anstieg auf die Cresta Croce auf 3.300 Metern mit der kleinen
Zwischen den Welten
Szenebericht eines Freeriders und passionierten Tourengehers vom Adamello Ski Raid 2011:
41 Kilometer, 3.400 Höhenmeter, vier 3.000er auf Anschlag mit kuriosem Ausgang.