SNAP-FICTION trativ an BonnyUniversal, schilderte der KI den Kontext der Ausstellung, beschrieb den Künstler, das Material und die Motive und ließ sich einen Vorschlagspreis nennen, den sie letztlich auch bereit war zu zahlen. Auf der Rückfahrt im Taxi schämte sich Nicole. The kids are alright war ein Gedanke, der sich vielleicht verbot, wenn es um Personen ü-dreißig ging. Dennoch war es nicht notwendig gewesen, sich diesen jüngeren Leuten gegenüber so exzentrisch zu verhalten, wie sie es getan hatte. Gerne hätte sie sich auf der Fahrt mit jemandem unterhalten, um sich abzulenken, „Musik?“, stand abermals als Frage auf dem Display. „Spielen Sie etwas, das Sie für angemessen halten“, sagte Nicole. Und dann spielte das Taxi sehr laut Musik aus ihrer Jugend. Es war Gitarrenmusik, die Mitschülerinnen von Nicole gehört hatten, sie selbst aber nie. „Machen Sie das bitte wieder aus!“, sagte sie, und die Musik stoppte sofort. s folgte eine stürmische Nacht. Am Morgen regnete es heftig, und danach schien die Sonne, und dann regnete es wieder. Da Nicole in ihrer viel zu sauberen Berliner Wohnung kein Frühstück hatte, ging sie abermals mit schnellen Schritten übers Flugfeld, in einem transparenten Regencape, um sich an einem Kiosk im Schillerkiez eine Schrippe mit Käse und einen Becher Filterkaffee zu kaufen. Dieser Kiosk – wo volle Kühlschränke standen, wo sich Fertigprodukte und Pasta-Packungen stapelten, wo Drohnen ein und aus flogen, um Pakete abzugeben, und wo es ein eigenes, staubiges Regal für Taschenbücher mit den Romanklassikern aus der Romantasy-Ära gab – war vielleicht der letzte seiner Art. Nicole aß das belegte Brötchen direkt vor Ort, den Kaffee nahm sie mit auf den Spaziergang zurück nach Hause. Die Sonne kam jetzt durch, es wurde für einen Märzmorgen ziemlich warm, und ein beinahe makelloser, doppelter Regenbogen erschien. Der untere der beiden Bögen leuchtete so deutlich, dass er fast digital aussah, und der obere hing wie ein verblassendes Kinderaquarell darüber. Hätte Nicole das Fotografieren nicht vor Jahren bereits aufgegeben, sie hätte es sich nun kaum verkneifen können. Die meisten anderen Personen standen längst mit ihren Fotobrillen und Fotohandys und Fotogürtelschnallen da und hielten das Naturschauspiel fest. Nicole trank ihren Kaffee und textete wenig später der Eigentümergemeinschaft, dass sie dafür plädiere, den hellgrünen Schriftzug auf der Fassade zu belassen. „Um ehrlich zu sein“, ergänzte sie in einer zweiten Nachricht, „bestehe ich sogar darauf.“ schwörungstheorie hier“, sagte Nicole und erwartete einen Kommentar. Die meisten Assistenzsysteme kommentierten alles auf eine maximal beschwichtigende Weise. Das Berliner Taxi textete: „OK.“ Das regenbogenfarbene Flugblatt stellte sich als Petitionsaufruf heraus. Der Double Rainbow e. V. setzte sich für eine KI-Assistenz-freie urbane Zone auf dem Tempelhofer Flugfeld ein, das vom Double Rainbow e.V. als historisch gewachsener Freiheitsraum definiert wurde. Die Rhetorik des Flugblatts war vergleichsweise harmlos. Nicole hatte gegen technikfreie Räume nichts einzuwenden, sie fand nur den Gedanken gruselig, dass irgendwer das auch kontrollieren müsste. „Ist gar keine Verschwörungstheorie. Ist eine Petition“, sagte Nicole zum Taxi. Und das Taxi textete: „OK.“ ie Britzer Kunsthalle befand sich in einem ehemaligen Supermarkt. Und sämtliche Künstler:innen, die dort an der Gruppenausstellung teilnahmen, bezogen sich mit ihren Werken auf die Geschichte dieses besonderen Ortes. Eine junge Frau hatte Packungen von Frühstückscerealien aus glänzendem Fiberglas nachgebaut. Zwei Personen führten im 30-Minuten-Takt einen kurzen Dialog an einer historischen Fleischtheke des Jahres 2010 auf. Eine Videoarbeit zeigte Kinder beim Ladendiebstahl aus der Perspektive einer Überwachungskamera. Und der enge Freund von Nicoles Neffe Ben hatte große Viskosetücher mit den Logos aller vier Supermarktketten hergestellt, die in diesem Ladenlokal einst Lebensmittel verkauft hatten: Rewe, Edeka, Lidl und Norma. Nicole fand die Tücher auf eine dekorative Weise schön. Der Künstler verschüttete fast seine Cola, als sie ihm das sagte. Wahrscheinlich wollte er keine dekorative Kunst machen. Und als sie ihm vorschlug, eines der Tücher – das, auf dem sich das Lidl- mit dem Edeka-Logo fusionierte – in ihre Sammlung aufzunehmen, er solle ihr bitte einen Preis nennen, spürte Nicole die Überforderung des jungen Mannes. Es war auf Gruppenausstellungen dieses Niveaus nicht üblich, vorab Preise zu bestimmen. „Ich vermute, du wirst gleich deine KI-Assistenz fragen, welchen Preis du von Nicole Beisel verlangen kannst“, sagte Nicole und erschrak über sich selbst. Sie klang in diesem Moment wie eine ältere Dame, die von der nachgeborenen Generation genervt war. „Gerne können Sie mir auch sagen, was Sie zahlen möchten“, sagte der Künstler. Und dann richtete sich Nicole demons „Interessieren Sie sich für die Befreiung?“, fragte ein Mann, den Nicole auf ihr Alter schätzte. „Die Befreiung von was?“, wollte sie wissen. D E THE RED BULLETIN 116
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